Interview zum Weltfrauentag mit Lilia Nester, Stellv. Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Göttingen

Am 8. März ist zum 111. Mal Weltfrauentag: Woran denkst du bei diesem Stichwort als erstes?


Dass 111 Jahre nicht ausgereicht haben, und dass die damaligen Problemfelder immer noch existieren. Es hat sich zwar recht viel getan, aber bei weitem nicht genug. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren scheint die Gleichstellung auf rechtlicher Ebene scheinbar erreicht - mit diesem Wissen bin ich aufgewachsen. Aber in der Praxis klafft noch eine große Lücke, die einem nicht immer bewusst ist: Egal, ob man sich den Frauenanteil im Bundestag anschaut, der erst bei 34,9 % liegt, den Gender-Pay-Gap oder den Gender Care Gap. Es sind immer noch Frauen diejenigen, die häufig stark benachteiligt sind, egal ob in der Politik, in der Wirtschaft, in der Pflege- und Sorgearbeit oder in der Altersarmut.
Trotz aller Fortschritte, die aus der Frauenbewegung und der Gleichstellungspolitik resultieren, wirken weiterhin traditionelle Geschlechterstereotype und Verhaltensmuster. Es ist erschreckend, dass nach 111 Jahren die damaligen Beweggründe der Frauenkämpferinnen kaum an Bedeutung verloren haben. 


Hast du persönlich schon Meilensteine in der Geschichte der Frauen für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung miterlebt? 


Hm, bei Meilensteinen muss ich an richtig große Veränderungen denken, wie die Ehe für alle seit Oktober 2017 oder die Istanbul Konvention (das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), die seit 2018 in Kraft getreten ist und ein gesetzliches Fundament für den Schutz vor Gewalt gegen Frauen ermöglicht. 


Viel mehr Meilensteine fallen mir nicht ein, aber was ich wahrnehme ist, dass es viele kleinere Veränderungen in unserer Gesellschaft gibt: Mittlerweile ist zum Beispiel das Gendern viel selbstverständlicher geworden. Ich finde es empowernd, wenn selbst die Sprecher:innen in der Tagesschau auf eine inklusive Sprache achten. Das trägt zur Selbstverständlichkeit bei und normalisiert den sprachlichen Anpassungsprozess. 


Ich denke, entscheidend ist, dass die Schieflagen in der Gesellschaft erstmal in das Bewusstsein der Menschen vordringen, damit sich überhaupt etwas tut. Dass die existenzielle Bedeutung von Sorgearbeit, wie die Betreuung von Kindern und die Pflege von älteren und kranken Menschen, mehr in den öffentlichen Diskurs rückt, ist ein Grundstein für Veränderung. Außerdem bewegt sich auch was in der Abtreibungsdebatte: Der Paragraph §219a soll abgeschafft werden. Es ist die Summe von vielen kleinen Veränderungen, die den gesamten Wandel ausmachen. 

Wo stehen wir mit den Rechten von Frauen deiner Meinung nach heute? Was liegt noch vor uns?


Haushalt, Kinderbetreuung und Pflege gehören zu den hartnäckigsten Bremsen für die Gleichstellung der Geschlechter. Frauen leisten 52 % mehr unsichtbare Sorgearbeit, bei den 34-Jährigen sind es sogar 111 %. Dieser Gender-Care-Gap wirkt sich negativ auf die Bildungschancen, auf das Einkommen, die gesellschaftliche Teilhabe und die Gesundheit von Frauen aus.
Vor uns liegt deshalb die Aufgabe, die bereits erreichten Rechte auch in der Praxis umzusetzen. Das ist eine sehr vielseitige Aufgabe. Es ist wichtig, auf Benachteiligungen von Frauen aufmerksam zu machen: Unsichtbares sichtbar zu machen, aktiv zu werden und sich zusammenzutun. Dabei können Netzwerke sehr hilfreich sein. Damit diese auch erfolgreich sind, müssen konkrete Ziele verfolgt werden. So kann man Lösungen im kleinen und großen Rahmen näherkommen.  


Bezogen auf Südniedersachsen: Welche Themen planst du für unsere Region? Welche Wünsche hast du - vielleicht auch an unsere BusinessWomen Empowerment-Plattform?


Aus meiner Rolle in der Gleichstellungsarbeit liegt mir das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr am Herzen. Denn erst, wenn der familiäre Hintergrund geklärt ist, sind wir Menschen überhaupt erst einsatzfähig - ansonsten geht ein Teil der Leistungsfähigkeit für Sorgen drauf. Deshalb würde ich die Bedeutung der Care-Arbeit gern sichtbarer machen, mehr Mittel dafür einsetzen und für Equal Care sensibilisieren. Niemand mit Kindern oder mit zu pflegenden Angehörigen könnte einer Erwerbsarbeit nachgehen, wenn nicht im Hintergrund dafür gesorgt wäre, dass jemand die Bedürfnisse der Menschen stillt und dafür sorgt, dass im Alltag alles funktioniert. Auch in Bereichen wie Führungspositionen und der Politik spielt das Thema Vereinbarkeit eine erhebliche Rolle. Kinder und Karriere sollten sich in unserer Gesellschaft nicht gegenseitig ausspielen.

Deshalb ist mein Wunsch, die oben angesprochenen Netzwerke wirklich zu nutzen und aktiv zu werden. Wir brauchen realisierbare Lösungen, um im Anschluss die Ziele zu erweitern. Dazu ist Empowerment extrem wichtig, weil er da ansetzt, wo Unterstützung gebraucht wird, so wie hier bei BusinessWomen Empowerment.


Vielen Dank, liebe Lilia!

Lilia Nester ist zweifache Mutter und lebt seit 2009 in Göttingen. Sie studierte hier Soziologie und Geschlechterforschung. Seit 2020 arbeitet sie im Landkreis als Stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte Stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte.